Gesundheit

Jüngste Frühchen Europas – Frieda entwickelte sich völlig normal

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Sie kam nach 21 Wochen und 5 Tagen Schwangerschaft auf die Welt. Frieda musste sich ins Leben kämpfen und ist heute acht Jahre alt. Ein Gespräch mit ihrer Mutter und dem Arzt, der sie behandelte.

Frieda mit ihrem Teddy Finn. Europas erstes Frühchen bekam ihn bereits als Baby. Der Bär war schon mit ihr im Kindergarten und im Urlaub am Strand. Heute sitzt er jeden Tag im Auto, wenn sie in die Schule gefahren wird.

Die Angst, dass Frieda plötzlich sterben könnte, ist immer noch da. Manchmal überfällt das Gefühl Yvonne M. unvermittelt, so wie an diesem kalten Dezembertag vor der Schule. Auf dem Fußballplatz steht ein Rettungshubschrauber. Ihre Stimme wird tonlos: “Was ist da passiert?” Doch schon kommt Frieda durch die Glastür, eingehakt bei einer Freundin. Als die Mädchen kurz stehen bleiben und flüstern, plumpst Frieda rücklings zu Boden. Sie überspielt es mit einem Lachen. Gleichgewichtsstörungen? Entwicklungsrückstand? Wer ihre Geschichte kennt, fragt sich das. Doch vielleicht war es auch nur der schwere Ranzen, der sie zur Erde riss. Friedas Gesicht ist schmal, unter der Mütze quellen lockige blonde Haare hervor. “Wer ist das?”, fragt sie und heftet ihre blaugrünen Augen auf den Reporter. “Weißt du doch, wir haben Besuch heute”, sagt Yvonne. “Onkel Repp kommt auch.” Wer das ist? Frieda: “Das ist der Mann, der mich gesund gemacht hat.”

Im Wohnzimmer zu Hause hängt eine Strickleiter, die Frieda sofort erklimmt. Auf Regalen stehen Fotos aus den ersten Lebenstagen von Frieda – und von ihrem Bruder Kilian, der sieben Stunden vor ihr zur Welt kam.

Weiß Frieda, dass sie das jüngste Frühchen Europas ist?

Yvonne: Nein. Aber sie weiß, dass sie etwas Besonderes ist. Neulich hat sie ein Foto von sich in der Lokalzeitung entdeckt. Wir haben ihr erklärt, dass der Artikel nicht über sie, sondern über ihren Arzt Reinald Repp geht. Natürlich weiß sie, dass sie zu früh zur Welt gekommen ist.

Frieda im Alter von zwei Jahren

Und versteht sie, was das bedeutet?

Wir verheimlichen ihr nichts, waren auch schon öfter mit ihr auf der Frühchenstation. Dort sah sie Babys mit durchschimmernder Haut und Beatmungsschlauch im Gesicht. Wir haben ihr erklärt, dass sich auch bei ihr damals die Lunge noch nicht entfaltet hatte und sie künstlich beatmet werden musste.

Wie findet sie das?

Frieda ist sehr abgeklärt, das erstaunt uns immer wieder. Auch wenn sie Fotos von sich damals sieht. Als eine Freundin zu ihr sagte, du bist in einem Glaskasten gelegen, sagte sie, nein, ich war in einem Inkubator. Aber natürlich hat sie jetzt immer mehr Fragen.

Welche Fragen?

Ob sie oft gepikst wurde, ob sie viel geweint hat. Und sie fragt nach Kilian. Einmal, an seinem Grab, wollte sie wissen, ob er immer noch so klein ist wie damals. Ich habe ihr erklärt, dass da nur noch seine Knochen sind, er selbst aber lebt in unserer Seele und im Himmel weiter. Manchmal ist sie sauer auf ihn, dann fragt sie, warum der Kilian so früh rauswollte, sie wollte doch noch drinbleiben.

Als am 7. November 2010 der Anruf kam, war der Chefarzt der Kinderklinik Fulda, Reinald Repp, gerade auf dem Rückweg von einem Wochenendbesuch. 33-Jährige mit Zwillingen, Schwangerschaft seit 21 Wochen und 5 Tagen, frühzeitige Wehen. “Die Eltern wollen Maximaltherapie!”, sagte der Oberarzt. “Die Zwillinge können unmöglich überleben. Hast du ihnen das gesagt?”, fragte Repp. “Natürlich! Dass kein Fall bekannt ist …” “Ich komme. Sag den anderen Bescheid.”

Herr Repp, was empfehlen die Leitlinien zur Therapie von extrem Frühgeborenen wie Frieda und Kilian?

Wenn Babys in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, sollen wir nur auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern lebenserhaltende Maßnahmen einleiten. Über noch früher Geborene heißt es, man werde in der Regel auf eine initiale Reanimation verzichten.

Das hat ja gute Gründe. Nur sechs Prozent der Frühgeborenen in der 23. Woche überleben, und das oft mit bleibender Behinderung.

Moment! Ihre Zahlen beziehen sich auf Babys, die vor vielen Jahren in den USA geboren wurden. In Deutschland liegen diese Überlebensraten aktuell schon bei 16 Prozent, wenn auf eine lebenserhaltende Behandlung nicht von vornherein verzichtet wurde.

Aber Frieda und Kilian kamen ja noch früher. War es da nicht ein großes Wagnis, sie zu intubieren?

Repp: Wir hatten keine Alternative. Im Auto hatte ich mir zwar vorgenommen, noch mal mit den Eltern zu sprechen, aber die Geburt war schon in vollem Gange.

Ein Test hatte schon im Alter von zwei Jahren gezeigt, dass Frieda die Frühgeburt ohne Behinderungen überstanden hatte

Yvonne: Und wir wussten nicht, worauf wir uns da einlassen würden. Wir hätten die Woche drauf einen Gesprächstermin dazu mit einem Oberarzt gehabt. Ich weiß nicht, wie wir uns dann entschieden hätten. Vielleicht gegen das Leben.

Repp: Für mich war das ein klarer Auftrag. Meine erste Chance, mit den beiden zu sprechen, hatte ich nach Kilians Geburt.

Und was haben Sie ihnen gesagt?

Repp: Dass die Entscheidung, die sie heute getroffen haben, nicht unumkehrbar ist und wir jetzt von Tag zu Tag sehen müssen, wie die Babys sich entwickeln. Dass wir alle dafür offen bleiben müssen, die Entscheidung später zu revidieren und Sterben manchmal die bessere Option ist.

Yvonne: Und du hast uns von Jonas* erzählt, der im Klinikum Fulda ein Jahr zuvor nur zwei Schwangerschaftstage älter zur Welt gekommen ist und sich gut entwickelt hat. Das hat uns Mut gemacht.

Repp: Ich wollte auch von den Chancen sprechen. Jonas war ein Schlüsselerlebnis für mich, und nicht das erste. Man kann keine eindeutigen Grenzen ziehen, man darf die Entscheidung über Leben und Tod eines Frühgeborenen nicht nur an der Schwangerschaftswoche festmachen.

Woran dann?

Repp: Die Kinder sind von Anfang an unterschiedlich. Eine wichtige Rolle spielt zum Beispiel, ob eine Infektion vorliegt oder nicht. Für die Prognose ist auch mitentscheidend, wo die extrem Frühgeborenen zur Welt kommen. Alle Perinatalzentren der höchsten Versorgungsstufe schicken ihre Behandlungsergebnisse jedes Jahr an ein Institut, das sie auswertet und auf perinatalzentren.org veröffentlicht, da ist für ungewöhnlich hohe Transparenz gesorgt.

Wo liegt da Ihre Klinik?

Wir gehören seit vielen Jahren zu den Zentren mit den höchsten Überlebensraten und wenigsten Komplikationen – dabei sind Fälle wie Frieda gar nicht erfasst, nur Frühgeborene ab der abgeschlossenen 24. Woche fließen in die Statistik ein.

Machen Sie etwas anders als Andere?

Jedes Zentrum hat so seine Besonderheiten. Bei uns werden zum Beispiel die jüngsten Frühchen mit einem Hochfrequenzbeatmungsgerät beatmet, das machen nicht viele. Die Maschine pumpt nur kleine Mengen Luft in die Lunge, dafür 900 Mal pro Minute. Es gibt Hinweise, dass die minimalen Druckdifferenzen die unreifen Lungen schonen.

Hielten Sie es denn für möglich, dass Frieda oder Kilian überleben, nachdem Sie beide gesehen haben?

Mein erster Eindruck war besser als erwartet. Beide haben sich bis zum Tag ihrer Geburt gut entwickelt.

Frieda mit Reinald Repp, Chefarzt der Kinderklinik Fulda. Geholfen habe ihr starker Wille, sagt er. Und die gute Teamarbeit im Krankenhaus.

Hatten sie gleiche Chancen?

Das ist schwer zu sagen, in den ersten drei Monaten kann so viel Unvorhersehbares passieren. Günstig war, dass wir beide erfolgreich im ersten Versuch intubieren konnten, das war die erste große Hürde. Ihr Gehirn wurde also von Anfang an ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Ansonsten waren Kilians Anfangsbedingungen vielleicht etwas schlechter. Er kam sieben Stunden früher als Frieda zur Welt, und in der 22. Schwangerschaftswoche zählt jede zusätzliche Stunde im Mutterleib. Außerdem hatte er eine ungünstige Geburtslage, er kam mit den Füßen voran. Frieda Kopf voran in einer “Glückshaube” …

Glückshaube?

Sie war umgeben von den Eihäuten. Im Mittelalter galt das als gutes Omen. Tatsächlich wirkt die Glückshaube wie ein Airbag, sie hat Frieda beim Durchtreten des Geburtskanals geschützt. Kilian war nach der Geburt übersät von Blutergüssen, Frieda nicht.

Als Frieda 20 Tage alt war, begann ihre Haut aufzuquellen, und sie nahm rasant zu. Repp diagnostizierte das lebensgefährliche Kapillarleck-Syndrom. In Friedas Körper waren kleinste Adern porös geworden. Keine Therapie schlug an. Repp schlug schließlich ein Medikament vor, das sich bei Frühchen eigentlich verbietet – wegen Thrombosegefahr. Die Eltern waren einverstanden. Das Medikament wirkte fast sofort. Frieda war gerettet.

Yvonne, haben Sie den Ärzten blind vertraut?

Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Ja, mein Mann Johannes hat einmal “Frühgeburt 21 Wochen” in Google eingegeben und nichts dazu gefunden, dass jemals ein Kind überlebt hätte. Danach haben wir nie wieder ins Internet geschaut. Und du, Reinald, hast uns von Anfang an das Gefühl gegeben, dass du alle Entscheidungen mit uns zusammen treffen wirst, wir fühlten uns auf Augenhöhe mit dir, das war sehr wichtig für uns.

Repp: Und für mich war euer Vertrauen wichtig. Nur so habe ich mich frei in meinen Entscheidungen gefühlt.

Die aber manchmal schon experimentell waren …

Repp: Für die Therapie von extrem Frühgeborenen gibt es nur wenige Studien, die uns den Weg weisen würden, was richtig ist und was falsch. Oft stehen wir vor der Wahl, etwas zu versuchen oder nichts zu tun, was den wahrscheinlichen Tod bedeuten würde. Wir müssen uns dann auf unsere klinische Erfahrung verlassen.

Wann merken Sie, dass alle Mühe sinnlos ist?

Wenn wir sehen, dass wir den Tod nur noch hinauszögern oder das Kind vorhersehbar schwerstbehindert bleiben wird, taub, blind und lebenslang beatmet. Wenn wir zum Beispiel den Kreislauf trotz hoher Adrenalin-Dosen und 100-Prozent-Sauerstoff-Beatmung nur noch gerade so stabil halten können.

Wie war das bei Kilian?

Als er 22 Tage alt war, hatte er eine der gefürchteten Frühgeborenen-Komplikationen: Teile seines Dickdarms waren nach einer bakteriellen Infektion abgestorben, Stuhl trat in die Bauchhöhle aus, die entzündete sich, sein Blut übersäuerte.h19060956_1081297693

Am späten Nachmittag des 18. Dezembers 2010 brach Yvonne weinend vor einer Krankenschwester zusammen: “Wann hat es unser Kilian denn endlich geschafft?” Es war das Signal, auf das sie seit Tagen gewartet hatten. Reinald Repp kam. Der Pater kam. Sie besprachen das Nötige. Dann stellte Repp die Zufuhr des Säurepuffers ab. Yvonne durfte Kilian in den Arm nehmen. Die Krankenschwester knipste die Lichtschalter im großen Raum der Intensivstation aus, wo neben Kilian noch fünf andere Frühchen in ihrem Inkubator lagen. Frieda schlief. Nur noch Monitore und Warnleuchten spendeten spärliches Licht. Normalerweise piepte immer irgendwo ein Alarm, doch jetzt war es lange still. Yvonne hatte das Gefühl, dass sich all die kleinen Seelen von Kilian verabschiedeten.

Warum hat Frieda überlebt?

Yvonne: Frieda ist eine Kämpfernatur. Heute erleben wir täglich, was für einen starken Willen sie hat. Sie beschließt, ob sie etwas will oder nicht, und es ist fast unmöglich, sie dann noch umzustimmen. Und noch was: Kilian hatte fast immer die Augen offen, Frieda hat fast immer geschlafen …

Repp: … das war jedenfalls ein Zeichen, dass sie nicht so stark unter Stress stand, wie zu vermuten gewesen wäre. Sie verfügte über eine gute Grundstabilität, trotz der unreifen Organe.

Lag es nicht doch daran, dass Sie einiges anders machen in Fulda?

Repp: Nein. Entscheidend war, dass unsere Teamarbeit gut war – und ist. Es sind die Krankenschwestern, die zuerst merken, wenn es Probleme gibt, die geben es an uns weiter, und wir überlegen, was zu tun ist. Die Kommunikation funktioniert bei uns einfach.

Müsste sich die Leitlinie für Frühgeborene an der Grenze zur Lebensfähigkeit ändern?

Eigentlich ist sie schon ganz gut, denn sie lässt uns viel Spielraum. In den Niederlanden oder der Schweiz werden sogar Frühgeborene in der 25. Schwangerschaftswoche oft nicht am Leben gehalten, dabei könnte mehr als jedes zweite dieser Kinder ohne Behinderung groß werden. Doch unsere Leitlinie basiert teilweise auf längst überholten US-Studien, in Deutschland haben wir heute viel bessere Langzeitergebnisse. Als Frieda zur Welt kam, gab es bundesweit kaum überlebende Frühgeborene aus der 23. Schwangerschaftswoche, im Jahr 2017 gab es 30. Die Grenzen werden unschärfer, dem sollten die Empfehlungen Rechnung tragen.

Hat Frieda Behinderungen davongetragen?

Yvonne: Sie hat geringe motorische Defizite, das sehen wir, wenn sie tanzt, und sie tanzt sehr gern. Sie ist sehr klein, unterhalb des Normalbereichs.

Repp: So wie viele Frühgeborene. Bald sollte man entscheiden, ob ihr die Gabe von Wachstumshormon helfen könnte.

Und geistig?

Yvonne: Da hat sie uns immer überrascht. In der Schule hat sie keine Probleme mit den Leistungen, in den letzten drei Schulaufgaben in Deutsch und Rechnen hatte sie zusammengenommen einen halben Fehler. Aber sie lenkt andere Kinder vom Unterricht ab und muss zur Strafe allein in der ersten Bank sitzen.

Rechnen macht Frieda keine Schwierigkeiten. Sie hat sich ganz normal entwickelt.

Hat sie ADHS, das Zappelphilipp-Syndrom?

Repp: Ich glaube nicht. Zwar kommt das bei Frühgeborenen häufiger vor, aber Frieda kann sich sehr lange auf eine Aufgabe konzentrieren …

Yvonne: Zum Beispiel, wenn sie malt, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen … (Yvonne bringt einen dicken Ordner mit abgehefteten farbenfrohen Bildern.)

Sonnen, Blumen, Tiere, Herzchen, lachende Gesichter. Wenn man das deuten wollte, scheint es so, als habe sie kein psychisches Trauma zurückbehalten.

Yvonne: Dafür gibt es keine Anzeichen und gab es noch nie. Sie ist immer fröhlich, sie weint selten, sie hat viele Freundinnen. Wir haben wirklich großes Glück und freuen uns jeden Tag an ihr.

Begleiten Sie Frieda noch ärztlich, Herr Repp?

Repp: Eigentlich nicht, außer es gibt mal eine dringende Frage. Ich kann meinen ärztlichen Blick ganz wunderbar ausschalten, wenn ich hier unter Freunden sitze, ich kann mich genauso an ihr freuen und staunen wie ihre Eltern.

*Name von der Redaktion geändert

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