Wirtschaft

Chaos-Brexit ist Stresstest fürs Gesundheitssystem

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Die Pharmabranche fürchtet vor allem auf der britischen Insel Engpässe bei der Arzneimittelversorgung. Probleme sind unterbrochene Lieferketten und Zulassungsfragen.

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FRANKFURT – Die Nervosität steigt. „Ein chaotischer Brexit rückt in gefährliche Nähe, Unternehmen schauen in diesen Wochen in den Abgrund“, warnt der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, vor Sorglosigkeit. Insbesondere in der Chemieindustrie schrillen die Alarmglocken. Enge Lieferverflechtungen, Gefahrstoffregeln und Produktzulassungen, die ungültig werden, sowie Zölle sind die markantesten Auswirkungen, die Produktion und Vertrieb zum Stocken bringen könnten. Nahezu jedes vierte Arzneimittel für den gesamten EU-Markt wird nach Angaben des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH) in Großbritannien freigegeben und in Verkehr gebracht. Um das zu erwartende Chaos abzumildern, müssten die Mitglieder der EU und auch Großbritannien dann selbst schnellstmöglich nationale Maßnahmen treffen, die zumindest in Teilen einen ungehinderten Warenfluss sicherstellen. „Insbesondere Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen müssen weiterhin ihre gewohnten Arzneimittel erhalten – sowohl in den verbleibenden EU-Ländern als auch in Großbritannien“, fordert BAH-Geschäftsführer Wissenschaft, Elmar Kroth. „Ohne Übergangsphase oder Regelungen, wie mit den gegenseitigen, stark verflochtenen Lieferketten zu verfahren ist, kann es empfindliche Störungen der Arzneimittelversorgung geben.“ Denn Großbritannien fällt bei einem Chaos-Brexit rechtlich auf den Stand eines Drittstaates jenseits der EU zurück.

Jährlich werden eine Milliarde Arzneimittelpackungen zwischen dem Vereinigten Königreich und den übrigen EU-Staaten gehandelt, rechnet der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (Vfa) vor. „Kommt dieser Warenstrom auch nur teilweise zum Erliegen, entstehen nicht nur wirtschaftliche Probleme. Es drohen auch medizinische Engpässe auf der britischen Insel“, sagt Vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. Für sie steht fest, dass die Briten den bevorstehenden Stresstest für das Gesundheitssystem wesentlich schwerer wegstecken können als die Europäische Union. Pharmakonzerne hätten zwar ihre Arzneimittelbestände auf der Insel erhöht, ob dies aber ausreicht, wisse niemand. „Britische Patienten vertragen kein Brexit-Chaos.“ Auch der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim hat die Lagerkapazitäten vorsorglich kräftig erhöht, wie ein Sprecher auf Anfrage berichtet. „Um die Patienten zu versorgen, brauchen wir Medikamente.“ Neben dem Lieferantenmanagement auf der Beschaffungsseite umfassen die Vorkehrungen auch den Aufbau interner Ausweichkapazitäten. Großbritannien ist für Boehringer Ingelheim in Europa der zweitgrößte Markt.

Bei Merck in Darmstadt wird ebenfalls für verschiedene Brexit-Szenarien geplant. „Das betrifft wichtige Bereiche wie Regulierung, Lieferkette, Verfügbarkeit von Fachkräften und grenzüberschreitende Forschungskooperationen“, erläutert ein Sprecher. Merck beschäftigt rund 1500 Mitarbeiter an 14 Standorten in Großbritannien. Die Qualitätskontrolle im Arzneimittelsektor sei in der Branche größtenteils auf der Insel angesiedelt. „Es wird zweifellos ungeheuer schwierig werden, all das zu entflechten“, sagt Merck-Chef Stefan Oschmann in seiner Eigenschaft als Präsident des europäischen Pharmaverbands EFPIA. Er rät den Unternehmen: „Stellt euch auch auf einen harten Brexit ein. Den zu managen wird schon allein logistisch ein Albtraum.“

BREXIT GEFÄHRDET ZULASSUNG

Ein unkontrollierter Brexit wird die eng verflochtenen Lieferketten in der Chemieindustrie stören. Denn REACH – eine der komplexesten Regelungen bei der Registrierung und Zulassung von chemischen Stoffen – würde ihre Geltung in Großbritannien verlieren. „Im Fall eines ungeordneten Brexit dürfen chemische Stoffe, die im Vereinigten Königreich für den Vertrieb in der EU registriert wurden, nach dem Austritt nicht mehr ohne Weiteres in der EU verkauft werden“, berichtet Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Utz Tillmann.

BASF fürchtet Millionenschaden: Das würde insbesondere den Chemiekonzern BASF treffen, der an neun Standorten auf der Insel produziert. „Die Lieferketten in der Produktion gehen in beide Richtungen“, sagt ein Sprecher. Zusätzliche Lager seien aufgebaut worden. Bei BASF bereitet ein vierzigköpfiges Team sich auf den Ernstfall vor. Insgesamt rechnet man in Ludwigshafen mit einem möglichen wirtschaftlichen Schaden in Höhe eines zweistelligen Millionenbereichs.

Briten sind der achtgrößte Handelspartner: Großbritannien ist der achtgrößte Handelspartner der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie. Deutsche Unternehmen exportierten nach VCI-Schätzung Produkte im Wert von 10,2 Milliarden Euro auf die Insel und importierten chemische Erzeugnisse für 5,8 Milliarden Euro aus dem Vereinigten Königreich.

Brexit gefährdet Zulassung

Ein unkontrollierter Brexit wird die eng verflochtenen Lieferketten in der Chemieindustrie stören. Denn REACH – eine der komplexesten Regelungen bei der Registrierung und Zulassung von chemischen Stoffen – würde ihre Geltung in Großbritannien verlieren. „Im Fall eines ungeordneten Brexit dürfen chemische Stoffe, die im Vereinigten Königreich für den Vertrieb in der EU registriert wurden, nach dem Austritt nicht mehr ohne Weiteres in der EU verkauft werden“, berichtet Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Utz Tillmann.

BASF fürchtet Millionenschaden: Das würde insbesondere den Chemiekonzern BASF treffen, der an neun Standorten auf der Insel produziert. „Die Lieferketten in der Produktion gehen in beide Richtungen“, sagt ein Sprecher. Zusätzliche Lager seien aufgebaut worden. Bei BASF bereitet ein vierzigköpfiges Team sich auf den Ernstfall vor. Insgesamt rechnet man in Ludwigshafen mit einem möglichen wirtschaftlichen Schaden in Höhe eines zweistelligen Millionenbereichs.

Arzneimittelbehörde EMA zieht nach Amsterdam

Mit dem Umzug der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA nach Amsterdam wird nun befürchtet, dass Zulassungsverfahren bis zum März 2019 nicht mehr rechtzeitig abgeschlossen werden können und sich verzögern.

„Ob es nun am Ende doch noch wie durch ein Wunder zu einem Deal kommt oder nicht: Als Unternehmer müssen Sie jetzt die Notfallpläne ziehen“, betont der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, gegenüber Spiegel-Online. Alle Unternehmen hätten für ihre Lieferketten – und damit also auch für die mittelständischen Zulieferbetriebe – durchdeklinierte Notfallpläne, alles andere wäre ja fahrlässig. „Allerdings haben sie diese Pläne aus guten Gründen bisher nicht öffentlich gemacht. Es ist also unklar, wie die Unternehmen im Einzelnen agieren werden.“

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